Diese drei Geschichten wurden von Ian Warner, Florian Ruland und Ela Spalding für die Installation Ocaso (Sonnenuntergang) im Volkspark Humboldthain geschrieben (frei übersetzt aus dem Englischen), als Teil des kollaborativen Landschaftslabors Desviarios (Kursabweichungen), organisiert von Paz Ponce.

Das eiszeitliche Berlin
von Ian Warner

Vor Einhundertfünfzehntausend Jahren begann eine lange Kälteperiode, und das Gletschereis breitete sich nach Süden aus. Die größte Ausdehnung erreichte das Gletschereis vor 22.000 Jahren südlich von Berlin. Vor etwa 11.000 Jahren stiegen die Temperaturen, und das Eis schmolz langsam – sehr, sehr langsam – wieder ab.

Stellt euch für einen Moment Berlin vor, während des jahrtausendelangen Rückzugs der Gletscher. Stellt euch ein fast 200 m dickes, zerbrochenes, schroffes, mit Algen beflecktes Inlandeis vor, das sich zu moorigen Tieflandflächen absenkt, die im Sommer von Schmelzwasserströmen überflutet werden.

Am Fuße des Inlandeises ist ein breiter Fluss entstanden, der von Osten nach Westen fließt und all die Sedimente wegspült, die das Eis 10.000 Jahre zuvor dorthin geschoben hatte. Mammuts, Wollnashörner und Moschusochsen grasen auf den Hochflächen östlich des Humboldthains.

Und stellt euch auch die Flussufer dieses großen, eisigen, langsam fließenden Schmelzwassers vor. Das ist nicht so schwierig, wie es sich anhört. Du stehst gerade in der Nähe des Nordufers dieses Flusses. Wenn du schon einmal die Prenzlauer Allee hinaufgeradelt bist und die Steigung verflucht hast, dann kennst du das Nordufer bereits gut. Und wer schon einmal mit dem Rad den Mehringdamm hinunter in Richtung der Bergmannstraße gefahren ist, der hat die Überreste dieses eiszeitlichen Flusses schon gefeiert. Unmittelbar nördlich von hier fließt auch die Panke: die Reste eines großen subglazialen Flusses.

Als sich die Gletscher zurückzogen, brachen riesige Eisbrocken ab und sanken in die weiche Erde darunter. Ihr enormes Gewicht drückte sie tief in den Boden, und später wurden sie von Sand- und Staubschichten begraben, die der Wind mit sich brachte. Als sie Tausende von Jahren später vollständig aufgetaut waren, hinterließen einige von ihnen Toteislöcher – das, was wir heute als Teiche und Seen kennen. Das nächstgelegene Toteisloch ist der fast kreisrunde Schäfersee in Reinickendorf im Nord-Nord-Westen.

Grüner Atem
von Florian Ruland

Einatmen, ausatmen. Wir atmen aus, ihr atmet ein.

Wir sind die Pflanzen dieses Parks, die Bäume, Sträucher und Kräuter, und unsere Gemeinschaft geht länger zurück als du denken magst. Vor ungefähr 11’000 Jahren sind die Gletscher über dem heutigen Berlin geschmolzen. Der kahle Erdboden ist wieder zum Leben erwacht – der Grund war bald bedeckt mit Gras von alten Samen in der Erde und solchen, die vom Wind gebracht wurden.

Als die ersten Menschen kamen, brachten sie Körner und Nüsse. Ohne eure Fürsorge wären Walnuss und Kastanie nicht hierher zurückgekehrt, Buche und Birke wären viel seltener. Ihr habt unser Holz genutzt, die Samen und den Schatten, dafür habt ihr unsere Setzlinge gehegt, Haine und Wälder gepflanzt.

Vor ungefähr zweihundert Jahren war euer Hunger nach Holz so gewaltig, dass fast alle Wälder in dieser Gegend abgeholzt waren. Eine neue Beziehung zum Wald und das Anlegen von Parks hat uns zurückgebracht, zusammen mit weiteren Pflanzen aus anderen Weltteilen. Der Park in dem du heute bist wurde durch Krieg zerstört und wieder angelegt.
Jetzt ändert sich das Klima ein weiteres mal. Es wird zu heiss für manche von uns, andere werden bleiben. Unser Verschwinden oder unsere Präsenz werden auch die Lebensumstände für euch ändern. Unsere Samen sind im Erdboden, wir sind geduldig.

Wir atmen aus, ihr atmet ein. Einatmen, ausatmen.

Wüste, Meer und Eis
von Ela Spalding

Eine Wüste, sagen sie, eine Wüste aus Dünen und Sand
mit kleinen robusten grünen Flächen
wo diverse eingeführte und eingewanderte Arten,
die inzwischen eingebürgert sind,
ihre Chance nutzen um sich zu entfalten
Unsere schönen exotischen Zimmerpflanzen
nehmen überhand, verwildern!
Mediterran, halbtropisch, sub-saharanisch
wechselnde Gefühle an den vielen Ecken der Stadt

Helfende Hände, die wir brauchen könnten
Helfende Hände, damit der Boden hält
damit die Bäume nachwachsen
Helfende Hände, damit der Regen wiederkommt
Helfende Hände und einen scharfen Verstand,
um zu wissen wie dieses System funktioniert,
sowohl oben als auch unten

Wenn wir durch die Zeitalter schlafen würden,
könnten wir hier aufwachen mit Blick über das Berliner Meer
Das Sonnenlicht prallt von seiner glänzenden Oberfläche ab,
nur ein paar Inseln stehen, weit voneinander entfernt.
Aber diese Bäume wären vielleicht nicht hier
wir würden auf dem Boden liegen. Oder würden wir das?

wären wir dann das, was wir sind?
Ein Wanze an der Wand,
ein Stäubchen in der Luft,
ein Samen in der Erde

Eine Ära später, die kalten Winde bahnen sich ihren Weg Zuerst in Strömen, langsam aber sicher,
bis sie sich zu einem konstanten Luftzug aufbauen,
Es kann sein, dass die Zeit naht,
dass sich das Eis ausdehnt und das Warten
von neuem beginnt,
die lange
tiefe Zeit
warten

Was wird wachsen, wenn das große Tauwetter wieder kommt?


Ela Spalding ist Künstlerin und Kunstvermittlerin und lebt in Berlin. In ihrer künstlerischen Praxis nutzt sie den Raum der Kunst als Medium um erweiterte Vorstellungen von Ökologie zu vermitteln. Ihr beruflicher Hintergrund liegt in den Bereichen Film, Fotografie, Tanz und somatische Bewusstseinspraktiken, mit einem ausgeprägten Interesse an Klang und Wohlbefinden. In transversalen Verschränkungen dieser Einflüsse lädt sie in ihren Arbeiten zum Zuhören und zur Resonanz nach Innen und Außen ein. Sie ist Gründerin und kreative Leiterin von Estudio Nuboso, einer nomadischen Plattform für den Austausch zwischen Kunst, Wissenschaft, Natur und Gesellschaft, die sich mit Umweltfragen in verschiedenen biokulturellen Kontexten befasst. Außerdem ist sie Gründungsmitglied von Archipel Stations Community Radio, einem in Berlin ansässigen, internationalen und interkulturellen Web-Community-Radiosender. 

Florian Ruland ist ein Ökologe, der seine Doktorarbeit über Verhaltensänderungen in neuen Artengemeinschaften geschrieben hat. Er lehrt an der FU Berlin und erforscht künstlerische Rituale der Trauer um den Verlust der biologischen Vielfalt, um Schock und Trägheit zu überwinden. Er ist Mitbegründer eines Start-up-Unternehmens, das an einer App arbeitet, die die Gleichstellung der Geschlechter bei der Verteilung der Pflegearbeit unterstützt.

Ian Warner ist Grafikdesigner und Autor und lebt in Berlin. Er ist der Gründer des Slab Mag, das seine und andere Schriften über das urbane Imaginäre zusammenfasst. Vor kurzem hat er die Meltwater Walks ins Leben gerufen, eine Wander- und Forschungspraxis, die sich mit den Spuren der letzten Eiszeit in Berlin befasst.